Viele Menschen bewegen mehr

Zusammenfassung und Kommentar zum Kapitel „Die Macht der Massenbeteiligung“ aus Jane McGonigals Besser als die Wirklichkeit.

Wie bringt man einen Zeitungsredakteur dazu, mehr als eine Million Dokumente innerhalb kürzester Zeit zu lesen? Am besten gar nicht. Einfacher ist, man teilt diese bürokratische Arbeit auf eine Masse von Menschen auf. So geschehen in Großbritannien, wo die Zeitung Guardian dem unmoralischen Umgang der Politiker mit Spesengeldern auf den Grund gehen wollte. Denn nachdem bekannt wurde, dass ein Parlamentsmitglied 32.000 Pfund an Spesenanträgen für die private Gartengestaltung einforderte, darunter 1.645 Pfund für ein schwimmendes Entenhaus, drängte sich der Verdacht auf, dass dies kein Einzelfall sei. Die Regierung stellte die Spesenanträge aller Politiker der letzten vier Jahren zur Verfügung – allerdings als riesige Menge unpraktischer Dateien im Bildformat. Der Guardian machte daraus ein Spiel, bei dem die Spielerinnen und Spieler die Dokumente nach Partei oder Region sortiert prüften und auffällige Rechnungen oder Spesen meldeten. Mit großem Erfolg, denn die Beteiligungsquote, also die Relation der angemeldeten passiven Benutzer zu den aktiv beteiligten Nutzern, war so hoch wie nie zuvor in einem Projekt, wo Investigativer Journalismus mit Crowdsourcing verbunden wurde (vgl. McGonigal 2011, 291f).

Bereits innerhalb der ersten 80 Stunden wurden von 20.000 Spielerinnen und Spielern 170.000 Dokumente untersucht. In ihrer Analyse dieser Case Study nennt McGonigal (2011, 293ff) unter anderem folgende Gründe für den großen Erfolg des gemeinsamen Aufdeckungs-Projektes:

  • Mühselige buchhalterische Arbeit in ein Spiel mit klarem Zweck verpacken
  • Schnelles Handeln durch einfache Benutzeroberfläche
  • Belohnung mit positiver Emotion zB Ich-bin-super-Gefühl
  • Produktivitätsgefühl auch bei irrelevanten Dokumenten
  • Gute Erfolgschancen mit zählbaren Resultaten (zB Ranglisten, beste Funde)
  • Soziale Dimension: angemeldete Benutzer und deren Beiträge
  • Transparenz der Resultate (Überblicksseite, mit Namen und was diese beigetragen haben) zB Parlamentsmitglieder nutzten 88 Millionen Pfund Steuergeld für private Zwecke

Wie oben beschrieben werden bei Crowdsourcing umfangreiche Aufgaben, die von einzelnen Organisationen nicht oder nur schwer zu bewältigen sind, meist über das Internet an die breite Masse ausgelagert und dadurch „schneller, besser und günstiger“ erledigt. Ein weiteres Beispiel für Crowdsourcing ist die digitale Online-Enzyklopädie Wikipedia, in die nach Schätzungen schon mehr als 100 Millionen Stunden „Denkarbeit“ von Freiwilligen investiert wurde (vgl. McGonigal 2011, 290 und 296f). Es gibt eine große Anzahl von Projekten, die um die Aufmerksamkeit und das Mitmachen der Nutzer buhlen. In dieser „Beteiligungswirtschaft“ ist der Markt das geistige Leistungsvermögen der Nutzer – und die Mitbewerber sind die anderen Kollaborationsprojekte (McGonigal 2011, 300).

Free Rice

Auch zum Wohle anderer Menschen kann Crowdsourcing eingesetzt werden. Auf die Gamer setzt die Initiative Free Rice die bei erfolgreich beantworteten Fragen auf der Online-Plattform Reis spenden. Bezahlt wird durch die Werbeeinblendungen und täglich etwa 7 000 Menschen damit ernährt. Ein guter Zweck und das klassische Gamedesign mit schnellem Feedback sind ein Anreiz für die Nutzer, die Webseite zu besuchen und einige Fragen zu beantworten. Die schnellen Erfolgen und das Flow-Erlebnis durch den steigenden oder sinkenden Schwierigkeitsgrad, je nachdem ob man die vorige Frage richtig beantworten konnte runden das Spielerlebnis ab. Die Reis-Rechnung geht auf, eine große Anzahl von Spielerinnen und Spielern konnte schon 69 024 128 710 (Anm.: aktuell 99 033 949 286 laut freerice.com am 18. April 2013) Reiskörner sammeln (vgl. McGonigal 2011, 318ff).

Folding@home

Verteiltes Rechnen ist eine andere Möglichkeit, um die PC Kapazitäten der Gamer zu nutzen. Folding@home wurde von Wissenschaftlern entwickelt um die Proteinfaltung im menschlichen Körper, die noch immer Rätsel aufwirft, zu berechnen. Die Proteinfaltung ist ein sehr komplexer Prozess der Krankheiten wie Alzheimer oder Krebs auslösen kann, falls dem Körper dabei ein „Fehler“ passiert. Da die Berechnungen, die nötig sind um die Faltungen zu verstehen, auf einem einzelnen Computer viel zu lange brauchen würden, lagern die Wissenschaftler die Rechnerkapazitäten auf private Computer und besonders auf die leistungsfähigen Spielekonsolen aus (vgl. McGonigal 2011, 311f). Der Resonanz des Projekts ist gewaltig und mittlerweile ist die Folding@home Anwendung auf Sony Playstations bereits vorinstalliert. Dadurch kommt bereits ein Großteil der externen Rechenleistung, die Folding@home in Anspruch nimmt, von Gamern. Mit den ihn zugeschriebenen Eigenschaften wie hoher Motivationsbereitschaft und hohe kognitive Fähigkeiten sind Gamer die ideale Zielgruppe, um auch geistigen Fähigkeiten zu nutzen. Genau damit beschäftigt sich das Projekt Foldit, das Folding@home noch übersteigt, da hier die Gamer selbst in einem Puzzle-Spiel die Proteine falten (vgl. McGonigal 2011, 315f).

Emotionale Bezahlung

Geld oder Bezahlung wären für solche Projekte eher ein Hemmnis. Eine nachhaltige Teilnahmewirtschaft muss – wie in einem guten Spiel – die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit intrinsischen Belohnungen motivieren. Die Bezahlung erfolgt also durch positive Emotionen und positive Beziehungen. Konkurriert wird um kognitive Leistung und emotionale Bindung und deswegen wird die befriedigende und kompetitive Beschäftigung die interessanteste sein (vgl. McGonigal 2011, 319f).

„Im Vergleich zu Spielen ist die Wirklichkeit begrenzt. Die Befriedigung hingegen, die gute Spiele auslösen, sind eine endlos erneuerbare Ressource.“ (McGonigal 2011, 321)

The matter is the message

Kommentar von Ingrid Arnezeder

Bei den bisher genannten Beispielen steht eine Organisation, ein (Medien)Unternehmen oder eine eingerichtete Plattform hinter dem Crowdsourcing-Unterfangen. Auch im Gaming Bereich gibt es Vereinigungen, Clans (Spieler-Gemeinschaften) oder „Social Gaming Networks“, teilweise auch mit rechtlicher Verankerung zum Beispiel bei Vereinen. (Mazari/Flierl 2009, 73f). „Wichtige kollektive Bemühungen“ (McGonigal 2011, 306), wie die oben erwähnten, haben eine treibende Kraft hinter sich, die sich für ein Anliegen bemüht, bei dem Menschen ihre Zeit investieren sollten und könnten. Dabei können sich etablierte Organisationen mit großer medialer Reichweite natürlich „wichtiger“ machen und ein größeres Zielpublikum anstreben. Was den mitmachenden Personen wichtig ist, wird am Ende aber nicht von der Organisation entschieden, sondern zeigt sich bei der Teilnahme der Crowd und am Erfolg der Aktion.

Plattformen wie Facebook, Twitter oder WordPress ermöglichen es jeder Person mit internetfähigem Endgerät, seine Meinung einer – vermeindlich großen – Zahl an Leserinnen mitzuteilen. In den letzten zehn Jahren ist eine neue Generation von Demonstranten, Aktivistinnen und Bloggern entstanden, die ohne Organisation im Hintergrund ist, aber trotzdem politische und gesellschaftliche Veränderungen erwirken will und kann (Anheier 2013, 86). Beispiel dafür sind Occupy oder der spanische Frühling, die Wirtschafts- und Bankensysteme herausgefordert haben und globale Proteste mit einer Vielzahl an Personen zur Folge hatten. Diese Massenbewegungen funktionierten „führerlos“, da sie meist außerhalb von etablierten Parteien, Gewerkschaften und NPOs entstanden sind (Anheier 2013, 77 und 80). Diese sozialen Bewegungen werden teilweise von Einzelpersonen angestoßen und sind einem Lebenszyklus unterworfen, der am Beginn experimentierfreudig ist. Es bestehen nur mit vage politischen Gestaltungsideen oder ein konkretes Ziel, womit sich eine Vielzahl von Personen identifizieren kann. Dadurch wird die Moral einer großen „losen“ Gruppe ins Rampenlicht gestellt, aus der sich aber durchaus im Laufe der Zeit Strukturen und Organisationen entwickeln können (Anheier 2013, 78). Genauso wie bei Crowdsourcing-Aktionen, hinter denen Organisationen stehen, sind auch diese in einem großen Wettbewerb um die Aufmerksamkeit begriffen. Ausschlaggebend ist aber wieder, dass das Thema der Crowd gefällt, relevant ist und authentisch verarbeitet wird – dann kommt auch die Botschaft bei der Masse an.

Quellen

Anheier, Helmut K (2013): Entwicklungen der internationalen Zivilgesellschaft. In: Simsa, Ruth / Meyer, Michael / Badelt, Christoph (Hrsg.): Handbuch der Nonprofit-Organisationen. S. 77-88. Stuttgart: Schäffer-Poeschel Verlag

Mazari, Ibrahim / Flierl, Matthias (2009): Gaming und soziale (Online-) Netzwerke. Medienkompetenzförderung am Beispiel ESL und ihres Ehrenamt-Netzwerkes. In: Gapski, Harald / Gräßer, Lars (Hrsg.): Medienkompetent in Communitys. Sensibilisierungs-, Beratungs- und Lernangebote. S. 69-82. Düsseldorf: kopaed verlagsgmbh

McGonigal, Jane (2011): Besser als die Wirklichkeit. Warum wir von Computerspielen profitieren und wie sie die Welt verändern. Kapitel 11: Die Macht der Massenbeteiligung. S. 289-224. München: Wilhelm Heyne Verlag